Fritz Mauthner

•Dezember 2, 2010 • Kommentar verfassen

aus Neue Zürcher Zeitung, 2. 12. 2010

…grüsst mit Buddha

upj. · Den Herolden der analytischen Philosophie gilt der späte Ludwig Wittgenstein – insonderheit seit den 1953 publizierten «Philosophischen Untersuchungen» – als einsame Lichtfigur der philosophischen Sprachkritik, als ob niemand vor ihm je erkannt hätte, dass die meisten Fragen der Philosophie auch Fragen nach der Bedeutung der Wörter und ihrer Verwendung sind. Da sich die moderne analytische Philosophie aber dezidiert ahistorisch gebärdet, ist ihr bisweilen entgangen, dass die ganze Philosophiegeschichte mit «sprachanalytischen» Positionen durchsetzt ist. Auch Wittgenstein hat auf den Schultern von anderen gestanden; man denke nur an das Werk Ernst Machs oder etwa an den ebenso genialen wie marginalisierten Fritz Mauthner. Mauthner, 1849 in Böhmen geboren und 1923 in Meersburg am Bodensee verstorben, hat ein großes, von Kennern geschätztes Werk hinterlassen, zu dem u. a. seine dreibändigen «Beiträge zu einer Kritik der Sprache» gehören. Darin wird die Sprachkritik als radikalste Vernunft- und Erkenntniskritik umrissen, der grundlegend metaphorische Charakter des Sprechens herausgearbeitet – und es werden, originell genug, gewisse sonderbare Blüten der Logik auf die «Tautologik» zurückgeführt. Wittgenstein hat das Werk Mauthners sehr wohl gekannt, wenn auch immer abgewertet.

Mauthner gehört zu jenen «Überbegabten», die in verschiedenen Sparten brillieren; Drama, Novelle, Schauspiel, Satire; hinzu kommen Beiträge zur Kulturgeschichte sowie eine vierbändige Geschichte des Atheismus im Abendland. Nach seinem Tod hat die damals sehr offene «Neue Zürcher Zeitung» diesem durchaus unbequemen und radikalen Geist am 8. Juli 1923 immerhin einen ganzseitigen Nachruf gewidmet. Um Mauthner, diesen so aufrechten und anregenden unter den radikalen Denkern, ist es erfreulicherweise nie ganz still geworden. Eben hat der in Konstanz domizilierte Libelle-Verlag Mauthners Erzählung «Der letzte Tod des Gautama Buddha» neu zugänglich gemacht. Ein wie immer erleuchtendes Nachwort hat der Mauthner- und Buddhismus-Kenner Ludger Lütkehaus dem kleinen Band mit auf den Weg gegeben.

Fritz Mauthner: Der letzte Tod des Gautama Buddha. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ludger Lütkehaus. Libelle-Verlag, Konstanz 2010. 125 S., Fr. 29.90.

Können Tiere sprechen?

•Dezember 1, 2010 • Kommentar verfassen

aus FAZ.NET

Das Lachen der Killerwale

Wie Orcas miteinander kommunizieren, wird zwar seit Jahrzehnten studiert, aber erst in groben Zügen verstanden. Im Familienverband pflegen die Meeressäuger eigene Dialekte. Das jeweilige Repertoire müssen sie erlernen, doch manche ihrer Rufe sind offenbar angeboren.

Von Sonja Kastilan

29. November 2010

Als Killerwal Keiko alias Willy vor sieben Jahren einer Lungenentzündung erlag, nahm die ganze Welt Anteil. Sein kurzes Leben in Freiheit endete in einem norwegischen Fjord. Allein. Dem ausgesetzten Kinoliebling war es im Atlantik nicht gelungen, sich wilden Artgenossen anzuschließen. Einsamkeit, darunter dürfte auch Luna im Nordpazifik vor Vancouver Island gelitten haben – mit einem nicht weniger tragischen Schicksal, das zumindest ganz Kanada zu Tränen rührte. Und die würde man überall als ein Zeichen tiefempfundener Trauer verstehen, ebenso unmissverständlich wie umgekehrt das Signal herzlicher Freude: Auch Lachen ist universal.

Jeder Mensch ist von Geburt an fähig, diese Gefühlsregungen zu deuten, ganz gleich welchem Kulturkreis er angehört und welche Sprache er spricht. Nun zeigen Aufnahmen, dass Killerwale (Orcinus orca), die bisher vor allem durch erworbene Ausdrucksweisen aufgefallen sind, vergleichbare Ursignale unter Wasser äußern. „Wir verständigen uns mit Hilfe erlernter und angeborener Komponenten, das ist bei Orcas offenbar nicht anders“, sagt Andrew Foote vom Centre for GeoGenetics in Kopenhagen. Zusammen mit Kollegen aus Hamburg, Seattle und Moskau publizierte Foote die Entdeckung eines universalen Orca-Rufs jetzt im Fachmagazin Naturwissenschaften. „Unterschiedliche vokale ‚Clans‘ schienen keinen Ruf g

„Resident, Offshore, Transient“

Früh von der eigenen Sippe getrennt, lernte Luna – zum untypischen Einzelgängerdasein verdammt – ähnliche Laute wie Seelöwen zu produzieren. In der Nootka-Meerenge lebten sie in friedlicher Nachbarschaft: L98, so chiffrierten Forscher den männlichen Orca, gehörte einem Typus von Killerwalen an, die sich hauptsächlich von Königslachs ernähren. Anderen Meeressäugetieren drohte durch Luna also keine Gefahr. Sein Bellen verblüffte, die Harmonien und Frequenzen verrieten jedoch den Wal: „Statt den üblichen drei, vier Kilohertz umfasste das Pulsspektrum bei Luna bis zu zehn Kilohertz und mehr“, sagt Foote, der eine Analyse dazu im August 2006 veröffentlichte. Fünf Monate nachdem die Schiffsschraube eines Schleppers den Wal tödlich verletzt hatte.

Tierstimmenimitator L98 ist heute ein legendäres Beispiel für das vokale Lernvermögen seiner Spezies, von der gleich mehrere Gruppen vor der kanadischen Westküste vorkommen. Drei Ökotypen um genau zu sein, die sich in ihrem Aussehen, den Verhaltens- und Ernährungsweisen unterscheiden: „Resident, Offshore, Transient“, so bezeichnen Zoologen die ortsansässigen, küstenfernen oder vorüberziehenden Killerwale von British Columbia und Washington. Aktuelle genetische Studien, an denen Andrew Foote beteiligt ist, weisen darauf hin, dass solche Orca-Typen als Unterart oder gar als eigenständige Art firmieren könnten.

Wer planscht wo?

Zum Thema

Wie diese sozialen Meeressäuger miteinander kommunizieren, wird zwar seit Jahrzehnten studiert, aber erst in groben Zügen verstanden. „Neben Klicks für die Echolokation und tonalen Pfiffen, produzieren Orcas verschiedene gepulste Rufe“, erklärt Nicola Rehn, die an der Universität Hamburg die Tierlaute untersucht. Gerade jene Killerwale, die in komplexen Gemeinschaften zum Beispiel rings um Vancouver Island residieren, sind besonders auf akustische Signale angewiesen, wenn sie den Kontakt auch über größere Distanzen halten wollen – und kommunizieren. Beim Jagen mit etwas Abstand zueinander überwiegen stereotype Rufe. Das ändere sich mit dem Sozialverhalten in nächster Nähe, sagt Rehn. „Wenn die Tiere miteinander agieren, spielen oder sexuell aktiv sind, äußern sie auch extrem variable Rufe.“ Wer planscht wo, zu welcher Gruppe gehört er? Ist er nahverwandt oder ein potentieller Partner, und wie ist sein Zustand? Womöglich verrät all das ein Code. Noch kennt kein Mensch die genaue Bedeutung der akustischen Signale, nur ihren ungefähren Kontext.

Erfahrene Bioakustiker wie Nicola Rehn und Andrew Foote erkennen innerhalb von Orca-Populationen unabhängige akustische Clans, die sich wiederum aus mehreren Schulen, sogenannten Pods, zusammensetzen. Diese Pods benutzen außer ein paar gemeinsamen noch jeweils eigene Rufe, und jede ihrer Familie pflegt einen anderen Dialekt, der sich gleich der menschlichen Sprache im Verlauf der Zeit leicht verändert. „In den Resident-Gruppen bleiben Killerwale ein Leben lang bei ihrer Mutter, die ihr spezifisches Repertoire weitergibt“, sagt Rehn. Nach umfassenden Verhaltens- und Lautanalysen hegte sie vor ein paar Jahren den Verdacht, dass ein bestimmter Ruf nicht nur von „Matrilinien“ eines Clans verwendet wird, sondern ebenso von entfernten Populationen. Vor der russischen Halbinsel Kamtschatka glucksen aufgeregte Killerwale wie die Orcas der Küstenregion Nordamerikas.

Den Code knacken

Im Jahr 1989 hatte der kanadische Orca-Kenner John Ford bereits „excitements-calls“ mit schnellen Tonhöhenmodulationen beschrieben: In großer Aufregung stießen Killerwale variable Pulsfolgen aus. Diesen Ruftyp (V4) fanden Rehn und ihre Kollegen jetzt beim Vergleich von sieben nordpazifischen Clans in allen der untersuchten Orca-Sprachkulturen. Insgesamt 69 Aufnahmen, die ihnen rund 35 Stunden Tonmaterial lieferten: „Zwar sind leichte Unterschiede zu hören und in den visuellen Spectrogrammen auch zu sehen, doch es handelt sich immer um die gleiche, universelle Grundstruktur“, sagt Andrew Foote. Eine, die bei engen Sozialkontakten eine Rolle spiele und Erregung ausdrücken könnte. Ob die Wale wirklich lachen? Das weiß im Moment niemand, nur dass V4 ein ähnlich variables Signal mit positivem oder negativem Sinn ist, je nach Kontext: Zoologen dokumentierten solche Töne auch in Konfliktsituationen. In Folgestudien müsste nun der Beobachtungshorizont ausgeweitet werden, auf andere Verbreitungsgebiete. Allerdings bedeutet jede Stunde Killerwalgeplauder etwa einen Tag der Auswertung.

„Diese Studie liefert uns wichtige Hinweise und Anstöße. Vermutlich finde ich den V4-Ruf auch in meinen Aufzeichnungen aus dem Atlantik“, sagt Volker Deecke, der das vokale Lernen von Zahnwalen an der Universität im schottischen St. Andrews erforscht. Während Delphine individuelle Pfiffsignaturen besitzen, bedienen sich Orcas Gruppenrepertoires und familiären Dialekten: Unterschiede oder Ähnlichkeiten spiegeln ihre Verwandtschaftsbeziehung wider, wie Deecke kürzlich herausfand. Ein Hauptproblem bei der Erforschung von Meeressäugetieren: „Wir können schlecht zuschauen und sehen, was geschieht, wenn sie bestimmte Rufe äußern und auf die von Artgenossen reagieren. Kollegen, die Vögel oder Schimpansen beobachten, haben ganz andere Informationen zur Hand.“ Aber neue Technologien zur Datensammlung können diese Wissenslücke jetzt schließen. So lässt sich das Verhalten von Killerwalen mit Lauten korrelieren – und vielleicht ihren Code knacken.

Drei Sekunden und die Dauer des Subjekts.

•November 27, 2010 • Kommentar verfassen

aus Neue Zürcher Zeitung, 27. 11. 2010

Ein Vortrag des Hirnforschers Ernst Pöppel

Von Uwe Justus Wenzel · Das Hirn darf man sich als einen nervösen Menschen vorstellen. In Abständen von wenigen Sekunden fragt es: «Was gibt’s eigentlich Neues in der Welt?» So – so ungefähr – hat es Ernst Pöppel formuliert. Der an der Ludwig-Maximilians-Universität in München arbeitende Psychologe sprach am vorgestrigen Abend in der vollbesetzten Aula der Zürcher Universität auf Einladung des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung über das Thema «Gehirn und Persönlichkeit». Zahlreiche Untersuchungen, so liess er wissen, haben ergeben: Drei Sekunden dauern mit messbarer Regelmäßigkeit die Szenen der Aufmerksamkeit, die sich auf der Bühne des Bewusstseins abspielen. Drei Sekunden währt mithin die Gegenwart; Drei-Sekunden-Einheiten strukturieren die Welt. Ernst Pöppel findet die drei Sekunden in der Dauer eines Händedrucks ebenso wieder wie in der Zeit, die vergeht, bis zappende Fernsehkonsumenten sich entschieden haben, ob sie bei einem Sender verweilen.

Sogar von der Rhythmik der Poesie, der Länge der Verszeilen, lässt der Neurowissenschafter sich seine These bestätigen. Sie läuft in dieser Version auf die Behauptung hinaus, es gebe «biologische Marker» für ästhetische Werte. Mit heiterer und gar nicht nervöser Selbstironie interpretierte Pöppel seinen Ausgriff in die Welt der Kunst als ein Anzeichen für die «Präpotenz» der Hirnforschung. Zu Beginn hatte er sich von einem grassierenden «Neuro-Pop» distanziert, der auf alle Fragen eine neurowissenschaftliche Antwort zu haben vorgaukelt. Nicht an jeder Stelle der locker ineinander geflochtenen Ausführungen war dann aber deutlich, wie demgegenüber so etwas wie eine Neuro-Klassik aussähe, die einer Phantasie der Allzuständigkeit nicht die Zügel schießen ließe. Mussten wir wirklich erst auf die Hirnforschung warten, um zu wissen, dass es leichter fällt, Fremdsprachen in jungen Jahren zu lernen?

Das eigentliche Vortragsthema, «Gehirn und Persönlichkeit», fand im Anschluss an die «Drei-Sekunden-Bühnen» seine Fortsetzung in der Frage, wie überhaupt eine Kontinuität der Selbstwahrnehmung zustande komme, wenn die Aufmerksamkeitsspannen des Bewusstseins so kurz sind (und wenn zudem der innere Sinn die Zeit nicht als fliessenden Strom wahrnimmt, sondern als ein in Einheiten von dreissig, vierzig Millisekunden «zerhacktes» Pulsieren). Pöppels Antwort: durch «semantische Vernetzung und soziale Synchronisation» – dadurch also, dass Bedeutung und Sprache ins Spiel kommen und andere Menschen.

Das «und» ist Ernst Pöppel wichtig. Er verficht das Prinzip der Komplementarität (das die Leser seines lesenswerten Buches «Der Rahmen» schon kennen): Identität und Dynamik, Rationalität und Gefühl, Autonomie und soziale Einbindung bestimmen das Geschehen. Mit der Komplementarität als Prinzip, das Harmonien aus Gegensätzlichem wirkt, geht dasjenige der Homöostase Hand in Hand: Alle Organismen, vom Einzeller bis zum Menschen, suchen ihr Gleichgewicht und damit sich selbst zu erhalten. Die Homöostase kam freilich nur kurz, am Anfang des anregenden Vortrags, vor (verkörpert von einem projizierten Einzeller). Sie wäre vermutlich auch der Anknüpfungspunkt gewesen, um zu erörtern, inwiefern die Neuropsychologie zu dem Thema der Veranstaltungsreihe etwas beizutragen vermag, in deren Rahmen Ernst Pöppel gesprochen hat: «Strategien in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft».

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Nota.

„Neuropop“ ist eine hübsche Wortprägung. Aber ob Neuropotpourri viel besser ist?

…dass der „innere Sinn die Zeit nicht als fließenden Strom wahrnimmt, sondern als ein in Einheiten von dreißig, vierzig Millisekunden «zerhacktes» Pulsieren“: Was soll das denn heißen: der ‚innere Sinn‘ „nimmt wahr“? Was ist denn das für eine „Wahr“nehmung, von der keiner was merkt? Merken kommt nicht ohne (wie immer man es definieren mag) Bewusstsein aus. Aber die in dreissig, vierzig Millisekunden pulsieren Hackstückchen kommen doch eben nicht zu Bewusstsein. „Gegeben“ ist aber die Zeit, wenn überhaupt, nur dem Bewusstsein. Und im Bewusstsein fließt sie.

Na, und so weiter.

Noch eins sei aber hervorgehoben: „Komplementarität“, „Harmonie“ und „Homöostase “ – das ist Neurometaphysik. Nämlich wenn man sie wie wirkende Kräfte vorstellt. Was lässt sich beobachten? Dass in allem Lebenden zwei gegensätzliche Tendenzen vorkommen – eine zum Wachstum ‚aus sich‘ oder ‚über sich‘ hinaus; und eine andere zur Beharrung im Status quo und zu seiner Wiederherstellung ‚auf erweiterter Skala‘. Und wer kann diese ‚Tendenzen‘ beobachten? Nur einer, der darauf achtet.

J. E.

Entscheidet mein Gehirn oder entscheide ich?

•November 26, 2010 • Kommentar verfassen

aus scinexx

„Ampel“ im Gehirn: Verzögerung

entscheidet

Verzögerte Hemmung von Nervenzellen ist mögliche Grundlage für Entscheidungen

In jeder wachen Minute müssen wir Entscheidungen treffen – manchmal im Bruchteil einer Sekunde. Neurowissenschaftler haben jetzt eine mögliche Erklärung gefunden, wie im Gehirn zwischen Alternativen gewählt wird: Offenbar könen schon winzigste Verzögerungen zwischen erregenden und hemmenden Signalen über Pro oder Contra entscheiden, berichten sie im Journal of Neuroscience.

Die Ampel springt von Grün auf Gelb: Schnell noch Gas geben oder doch auf die Bremse treten? Unser tägliches Leben ist eine lange Reihe von Entscheidungen. Im Gehirn besteht dieser Vorgang oft darin, dass einem Gehirnprozess der Vorzug gegenüber einem anderen gegeben wird, wobei beide auf dieselben Ressourcen im Nervensystem zugreifen wollen. Was genau im Gehirn geschieht, wenn zwischen Alternativen gewählt wird, war aber bislang ein Rätsel.

Nervenzell-Netzwerk im Rechner nachgebaut

Wissenschaftler des Bernstein Center an der Universität Freiburg um Jens Kremkow, Arvind Kumar und Professor Ad Aertsen stellen nun einen Mechanismus vor, mit dem das Gehirn bereits auf der Ebene einzelner Nervenzellen innerhalb von Sekundenbruchteilen aus mehreren Aktionen wählen kann. Da Struktur und Aktivität des Gehirns zu komplex sind, um diese Frage im einfachen biologischen Experiment zu beantworten, bauten die Wissenschaftler ein Netzwerk aus Nervenzellen im Computer nach.

Abstand zwischen erregenden und hemmenden Signalen entscheidend

Neuronen des Gehirns können erregend oder hemmend auf die Aktivität anderer Nervenzellen wirken. In dem von den Forschern konstruierten Netzwerk agierten zwei Gruppen von Neuronen als Sender zweier unterschiedlicher Signale. In einem nachgeschalteten Bereich, dem „Gatter“, sollten andere Neurone kontrollieren, welches der Signale weitergeleitet wird. Da die Zellen innerhalb des Netzwerks sowohl mit erregenden als auch mit hemmenden Neuronen verknüpft waren, erreichten die Signale das Gatter jeweils in erregender wie auch – nach kurzer Verzögerung – in hemmender Form.

Die Forscher fanden in ihren Simulationen heraus, dass für die „Entscheidung“ der Neurone zugunsten eines der Signale diese Verzögerung den Schlüssel darstellte: War sie sehr klein, wurden die Zellen im Gatter in ihrer Aktivität zu schnell gehemmt, als dass sie das Signal hätten weiterleiten können. Umgekehrt führte eine größere Verzögerung dazu, dass sich das Gatter für das Signal öffnete. Ergebnisse aus neurophysiologischen Experimenten zeigten bereits, dass in echten Nervenzellen eine Veränderung der Verzögerung möglich ist und unterstützen somit den Befund von Kremkow und Kollegen, dass auf dieser Basis die Auswahl aus mehreren Alternativen im Gehirn realisiert sein
kann.

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Nota.

Das „Was“ einer Entscheidung ist also sozusagen ‚von alleine da‘ – „determi- niert“ durch den je vorangegangenen ‚Zustand‘ des Gehirns, wie Wolf Singer sich ausdrücken würde. Die Entscheidung selber geschieht aber erst als eine alternative Wahl zwischen Ja und Nein – wobei das Ja eine Art ‚ausgebliebenes Nein‘ darstellt. Nun soll uns Wolf Singer noch erklären, wie eine alternative Wahl zwischen nur zwei Möglichkeiten von irgendwas oder irgendwem vorab „determiniert“ werden könnte!

J. E.

Der Geist als Widersacher der Zufriedenheit.

•November 19, 2010 • Kommentar verfassen

aus scinexx

Abschweifende Gedanken machen

unglücklich

Zusammenhang zwischen Leben im „Hier und Jetzt“ und gefühltem Glück bestätigt

Die Hälfte unserer Zeit sind wir mit den Gedanken nicht bei der Sache – und genau das könnte unserem Glück im Wege stehen. Eine jetzt in „Science“ veröffentlichte Studie hat einen deutlichen Zusammenhang zwischen der geistigen Präsenz im „Hier und Jetzt“ und dem Grad des Glücklichseins nachgewiesen. Je häufiger und länger die Gedanken abschweiften, desto unglücklicher fühlten sich die gut 2.000 getesteten Probanden.

Im Gegensatz zu anderen Tieren verbringen wir Menschen eine Menge Zeit damit, an Dinge zu denken, die nichts mit dem aktuellen Geschehen zu tun haben: Wir erinnern uns an Ereignisse der Vergangenheit oder denken an etwas, das möglicherweise in der Zukunft oder aber gar nicht stattfinden könnte. Man könnte fast annehmen, dass das Wandern und Abschweifen der Gedanken die normale Art ist, wie unser Gehirn funktioniert.

Probanden-Befragung per iPhone-App

Die Psychologen Matthew A. Killingsworth und Daniel T. Gilbert von der Universität Harvard wollten es genauer wissen. Sie interessierte vor allem, welche emotionalen Auswirkungen dieses Abschweifen der Gedanken haben könnte. Für ihre Untersuchung wählten sie eine ungewöhnliche Methode: Sie entwickelten eine spezielle iPhone Applikation, „trackyourhappiness“, die 2.250 freiwillige Teilnehmer der Studie in bestimmten Abständen kontaktierte. Die Probanden aller Altersstufen und beider Geschlechter wurden dann gefragt, was sie gerade taten, wie glücklich sie waren und ob sie gerade an ihre augenblickliche Tätigkeit dachten oder an etwas anderes positives, negatives oder neutrales.

Die Hälfte der Zeit geistig abwesend

Das Ergebnis: Im Durchschnitt 46,9 Prozent der Zeit waren die Teilnehmer nicht bei der Sache, sondern hingen anderen Gedanken nach. Insgesamt sank der Anteil dieser geistigen Abwesenheit bei allen Aktivitäten kaum unter 30 Prozent. Einzige Ausnahme: beim Sex. „Wandernde Gedanken scheinen über alle Aktivitäten hinweg verbreitet zu sein“, erklärt Killingsworth. „Diese Studie zeigt, dass unsere mentale Lebenswelt in bemerkenswertem Maße von dem nicht Gegenwärtigen durchdrungen ist.“

Wandernde Gedanken als ‚Indiz für Glück‘?

Und das Ausmaß dieser Nicht-Gegenwärtigen Gedanken scheint eng mit unserem Glücklichsein verknüpft zu sein. Denn am glücklichsten waren die Versuchspersonen meist bei den Aktivitäten, die noch am ehesten die Präsenz im „Hier und Jetzt“ erforderten wie Sex, Sport oder im Gespräch. Nach Berechnungen der Forscher trägt die spezifische Aktivität dabei nur zu 4,6 Prozent zum Grad des Glücks zu einem bestimmten Zeitpunkt bei. Immerhin ein Anteil von 10,8 Prozent dagegen wird durch die Gegenwart oder Abschweifung der Gedanken bedingt.

„Das Abschweifen der Gedanken ist ein exzellenter Indikator für das Glücklichsein von Menschen“, so Killingsworth. „Tatsächlich erlaubt die Häufigkeit, mit der unsere Gedanken die Gegenwart verlassen und der Trend, wohin sie dabei gehen, eine bessere Voraussage unseres Glücks als die Tätigkeiten, die wir gerade durchführen.“ Die Analysen der zeitlichen Abläufe stellten dabei sicher, dass das Wandern des Geistes im Allgemeinen wirklich die Ursache und nicht die Folge des Unglücklichseins war.

Bestätigung traditioneller Lehren

„Viele philosophische und religiöse Traditionen lehren, dass Glück durch das Leben im Moment gefunden werden kann. Viele Praktiken trainieren daher, das Wandern der Gedanken zu stoppen und im ‚Hier und Jetzt‘ zu sein“, so der Psychologe. Seiner Ansicht nach bestätigen die neuen Erkenntnisse diese alten Lehren durchaus.

„Der menschliche Geist ist ein wandernder Geist und ein wandernder Geist ist ein unglücklicher Geist”, so das Fazit von Killingsworth und Gilbert. „Die Fähigkeit an etwas zudenken, das nicht gerade passiert ist eine kognitive Leistung nicht ohne emotionale Kosten.“

(Harvard University, 12.11.2010 – NPO)

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Nota.

Wirklich keine neue Erkenntnis. Wär der Mensch bei dem geblieben, was ihm seine tierische Herkunft auf den Weg gegeben hat, nämlich Stoffwechsel und Fortpflanzung, und hätte er nie vom Baum der Erkenntnis gekostet – er würde sich noch heute im Garten Eden wähnen. Der Geist, den wir uns am oberen Ende unserer Gattungsgeschichte angehext haben, ist kein Freudenspender wie ein Babyschnuller. Glücklich macht das Denken nicht. Aber es hat andere Vorzüge.

aus: New York Times

When the Mind Wanders, Happiness Also Strays

By JOHN TIERNEYPublished: November 15, 2010A quick experiment. Before proceeding to the next paragraph, let your mind wander wherever it wants to go. Close your eyes for a few seconds, starting … now.

And now, welcome back for the hypothesis of our experiment: Wherever your mind went — the South Seas, your job, your lunch, your unpaid bills — that daydreaming is not likely to make you as happy as focusing intensely on the rest of this column will.

I’m not sure I believe this prediction, but I can assure you it is based on an enormous amount of daydreaming cataloged in the current issue of Science. Using an iPhone app called trackyourhappiness, psychologists at Harvard contacted people around the world at random intervals to ask how they were feeling, what they were doing and what they were thinking.

The least surprising finding, based on a quarter-million responses from more than 2,200 people, was that the happiest people in the world were the ones in the midst of enjoying sex. Or at least they were enjoying it until the iPhone interrupted.

The researchers are not sure how many of them stopped to pick up the phone and how many waited until afterward to respond. Nor, unfortunately, is there any way to gauge what thoughts — happy, unhappy, murderous — went through their partners’ minds when they tried to resume.

When asked to rate their feelings on a scale of 0 to 100, with 100 being “very good,” the people having sex gave an average rating of 90. That was a good 15 points higher than the next-best activity, exercising, which was followed closely by conversation, listening to music, taking a walk, eating, praying and meditating, cooking, shopping, taking care of one’s children and reading. Near the bottom of the list were personal grooming, commuting and working.

When asked their thoughts, the people in flagrante were models of concentration: only 10 percent of the time did their thoughts stray from their endeavors. But when people were doing anything else, their minds wandered at least 30 percent of the time, and as much as 65 percent of the time (recorded during moments of personal grooming, clearly a less than scintillating enterprise).

On average throughout all the quarter-million responses, minds were wandering 47 percent of the time. That figure surprised the researchers, Matthew Killingsworth and Daniel Gilbert.

“I find it kind of weird now to look down a crowded street and realize that half the people aren’t really there,” Dr. Gilbert says.

You might suppose that if people’s minds wander while they’re having fun, then those stray thoughts are liable to be about something pleasant — and that was indeed the case with those happy campers having sex. But for the other 99.5 percent of the people, there was no correlation between the joy of the activity and the pleasantness of their thoughts.

“Even if you’re doing something that’s really enjoyable,” Mr. Killingsworth says, “that doesn’t seem to protect against negative thoughts. The rate of mind-wandering is lower for more enjoyable activities, but when people wander they are just as likely to wander toward negative thoughts.”

Whatever people were doing, whether it was having sex or reading or shopping, they tended to be happier if they focused on the activity instead of thinking about something else. In fact, whether and where their minds wandered was a better predictor of happiness than what they were doing.

“If you ask people to imagine winning the lottery,” Dr. Gilbert says, “they typically talk about the things they would do — ‘I’d go to Italy, I’d buy a boat, I’d lay on the beach’ — and they rarely mention the things they would think. But our data suggest that the location of the body is much less important than the location of the mind, and that the former has surprisingly little influence on the latter. The heart goes where the head takes it, and neither cares much about the whereabouts of the feet.

Still, even if people are less happy when their minds wander, which causes which? Could the mind-wandering be a consequence rather than a cause of unhappiness?

To investigate cause and effect, the Harvard psychologists compared each person’s moods and thoughts as the day went on. They found that if someone’s mind wandered at, say, 10 in the morning, then at 10:15 that person was likely to be less happy than at 10 , perhaps because of those stray thoughts. But if people were in a bad mood at 10, they weren’t more likely to be worrying or daydreaming at 10:15.

“We see evidence for mind-wandering causing unhappiness, but no evidence for unhappiness causing mind-wandering,” Mr. Killingsworth says.

This result may disappoint daydreamers, but it’s in keeping with the religious and philosophical admonitions to “Be Here Now,” as the yogi Ram Dass titled his 1971 book. The phrase later became the title of a George Harrison song warning that “a mind that likes to wander ’round the corner is an unwise mind.”

What psychologists call “flow” — immersing your mind fully in activity — has long been advocated by nonpsychologists. “Life is not long,” Samuel Johnson said, “and too much of it must not pass in idle deliberation how it shall be spent.” Henry Ford was more blunt: “Idleness warps the mind.” The iPhone results jibe nicely with one of the favorite sayings of William F. Buckley Jr.: “Industry is the enemy of melancholy.”

Alternatively, you could interpret the iPhone data as support for the philosophical dictum of Bobby McFerrin: “Don’t worry, be happy.” The unhappiness produced by mind-wandering was largely a result of the episodes involving “unpleasant” topics. Such stray thoughts made people more miserable than commuting or working or any other activity.

But the people having stray thoughts on “neutral” topics ranked only a little below the overall average in happiness. And the ones daydreaming about “pleasant” topics were actually a bit above the average, although not quite as happy as the people whose minds were not wandering.

There are times, of course, when unpleasant thoughts are the most useful thoughts. “Happiness in the moment is not the only reason to do something,” says Jonathan Schooler, a psychologist at the University of California, Santa Barbara. His research has shown that mind-wandering can lead people to creative solutions of problems, which could make them happier in the long term.

Over the several months of the iPhone study, though, the more frequent mind-wanderers remained less happy than the rest, and the moral — at least for the short-term — seems to be: you stray, you pay. So if you’ve been able to stay focused to the end of this column, perhaps you’re happier than when you daydreamed at the beginning. If not, you can go back to daydreaming starting…now.

Or you could try focusing on something else that is now, at long last, scientifically guaranteed to improve your mood. Just make sure you turn the phone off.

 

 

Welttag der Philosophie.

•November 18, 2010 • Kommentar verfassen

aus Neue Zürcher Zeitung, 18. 11. 2010

Die Erziehung des Menschengeschlechts

Heute hat die Philosophie ihren Welttag

Uwe Justus Wenzel · Die Unesco ist die diensthabende Agentur zur Erziehung des Menschengeschlechts. Eines der Erziehungsmittel der United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization ist die Einrichtung sogenannter Welttage, wie sie auch andere Sonderorganisationen der Vereinten Nationen und die Uno selbst ausrufen. Erzogen wird an solchen Tagen auf dem Wege der Bewusstseinserweiterung. Erweitert oder geschärft wird nicht zuletzt, sondern zuerst das Problembewusstsein; am Tag der Muttersprache (21. Februar) nicht anders als an den Tagen des Buches (23. April), der Pressefreiheit (3. Mai), der kulturellen Entwicklung (21. Mai), der Bildung (8. September) oder der Toleranz (16. November). Es ist schwer zu sagen, ob das entsprechende Problembewusstsein durch die zyklische Wiederkehr der Tage seiner Erweiterung im Laufe der Jahre tatsächlich zunimmt. Denn es könnte sein, dass es sich in der Zeit nach den jeweiligen Erweiterungstagen stets wieder verengt und also abnimmt, so dass es im Ergebnis des Jahreskreislaufs auf der Stelle getreten ist. Mit dem Problembewusstsein stagnierte dann auch die Weltgeschichte, die heutzutage – in geringfügiger Abwandlung eines Wortes von Hegel – kaum noch etwas anderes als der Fortschritt im Bewusstsein der Probleme sein kann.

So führen Welttage geradewegs in philosophische Fragen – weswegen es gelegen kommt, dass am heutigen dritten Donnerstag des Monats November ein weiterer Welttag wiederkehrt, nämlich der der Philosophie. Dieser Feiertag des freien Geistes wird von der Unesco seit 2002 begangen, seit 2005 geniesst er den Status eines offiziellen Welttages. Die diesbezügliche Resolution (mit dem Aktenzeichen 33 C / 37) erinnert – recht und billig – daran, dass Philosophie «kritisches und unabhängiges Denken» ermutige sowie «Toleranz und Frieden» zu befördern vermöge. Das Schriftstück hält aber, wenig später, auch fest, «that the proclamation of a world philosophy day will not have any additional financial implication for the regular budget of Unesco 2006-2007».

Die in einer Epoche schrumpfender Haushalte zeitgemässe und nicht völlig falsche Beteuerung, Philosophie sei nicht teuer, lenkt auf fast schon listige Weise davon ab, dass nicht etwelche «finanziellen Implikationen» den Sprengstoff des Welttages der Philosophie bilden, sondern die Implikationen der Freigeisterei. Nicht alle Regierungen der 193 Mitgliedstaaten der Unesco dürften es begrüssen, wenn «kritisches und unabhängiges Denken» kultiviert wird. Und doch haben in den letzten Jahren immer wieder die zentralen und offiziellen Grossveranstaltungen des Philosophie-Welttages an Orten stattgefunden, die der Nachrichtenkonsument nicht ausschliesslich mit geistiger Freiheit assoziiert. Noch erstaunlicher mag erscheinen, dass die jeweiligen Regierungen sich zuvor darum beworben haben, den Austragungsort für die Feier des freien Geistes stellen zu dürfen. Doch mit der Philosophie verhält es sich offenbar ähnlich wie mit den Menschenrechten: Sie steht in der Rhetorik der internationalen Verständigungsverhältnisse hoch im Kurs. Ihr Prestige ist so gross, ihr Charme so unwiderstehlich, dass auch Machthaber sich gerne in ihrer Begleitung ablichten lassen. Mitunter muss ein solcher Machthaber aber eben auch dann noch beim internationalen Fotoshooting lächeln, wenn seine bei der Unesco entliehene Begleiterin ihm die eine oder andere unangenehme Wahrheit ins Gesicht sagt.

Gleichwohl: Wird die Philosophie nicht doch kompromittiert, wenn sie – und sei es nur zeitweilig und gewieft diplomatisch – Kompromisse mit Heuchlern schliesst? Andererseits: Wenn Geschichte nur mehr ein Fortschritt im Bewusstsein der Probleme sein kann und nicht – nicht so leicht – mehr ein Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit (wie Hegel noch glaubte), dann hat der Weltgeist mit den Welttagen der Philosophie zu Recht an Orten Station gemacht, die in einem weiten, wenn auch nicht alle im gleichen Sinne als Problembezirke gelten dürfen: Rabat (2006), Istanbul (2007), Palermo (2008), Moskau (2009).

Und was ist mit Teheran, das für dieses Jahr den Zuschlag für den Hauptkongress erhalten hatte? Nachdem die Machthabenden in Iran und ihre intellektuellen Komplizen allzu dreiste Spielchen getrieben hatten, zog die Unesco sich als Schirmherrin und die entliehene Welttagsphilosophie in vorletzter Minute zurück (NZZ 12. 11. 10). Auch das hat sein Gutes, auch das ist – in einem wiederum weiteren Sinne – Erziehung. Der Welttag wird dergestalt zu einem Gerichtstag dramatisiert; Hegels Rede von der Weltgeschichte als Weltgericht hallt nach. Und die Philosophie, die gerne tolerant und besonnen ist und, wo nötig, auch diplomatisch, demonstriert, dass sie als Medium der Verständigung zwischen den Kulturen nicht bis zur Selbstverleugnung neutral sein will.

Der Semmelweis-Effekt.

•November 18, 2010 • Kommentar verfassen

aus Neue Zürcher Zeiting, 18. 11. 2010

Zank und Dünkel in den

Wissenschaften

upj. · Das menschliche Erkennen hat, so möchte man doch gerne glauben, seit dem 17. Jahrhundert einen unendlich grossen und sicheren Schritt vorwärts gemacht: Es entstand die moderne Naturwissenschaft. Wahrheiten können nun sachlich erkannt werden, die Objektivität ist unter Laborbedingungen gesichert, und Leibniz war sogar der Meinung, dass in Zukunft der Streit zwischen zwei unterschiedlichen Meinungen durch eine einfache Rechenoperation entschieden werden könne. Doch man hatte eines vergessen: Die Antriebskräfte der Wissenschafter selbst sind alles andere als rein, lauter und klar. Fast allen akademischen Kontroversen wohnt ein gerüttelt Mass an Eitelkeit, Zank und Dünkel inne. Platzhirsche sehen durch eine neue These ihr Revier bedroht und sabotieren aktiv den Neuling. Ein schönes Beispiel ist Ignaz Semmelweis, der das Kindbettfieber auf die mangelnde Hygiene der Ärzte zurückführte und dafür auch klare und evidente Laborbeweise hatte: Semmelweis‘ Karriere wurde von den etablieren Ärzten boykottiert, seine Habilitation abgelehnt; er wurde schikaniert, erkrankte und wurde schliesslich in die psychiatrische Klinik Döbling bei Wien abgeschoben, wo er verstarb. Heute gilt er als Entdecker der Ursachen des Kindbettfiebers. Und mit seinem Namen ist auch ein neuer Begriff verbunden. Als «Semmelweis-Reflex» wird bezeichnet, was weiterhin fröhliche akademische Usanz ist: dass das wissenschaftliche Establishment einen innovativen Kopf zunächst für seine Thesen bestraft. Heinrich Zankl, emeritierter Professor für Humangenetik, hat die hehre Wissenschaft für einmal aus der Perspektive ihrer Feindschaften und Streitigkeiten ausgeleuchtet. Viel kommt da zusammen. Das Revier der Platzhirsche ist gross, nicht nur in den Naturwissenschaften.

Heinrich Zankl: Kampfhähne der Wissenschaft. Kontroversen und Feindschaften. Verlag Wiley-VCH, Weinheim 2010. 290 S., Fr.

Sekundäre Nesthocker.

•November 17, 2010 • Kommentar verfassen

aus scinexx

Homo sapiens-Kinder sind

„Nesthocker“

Studie: Lange Kindheit im Vergleich zum Neandertaler-Nachwuchs bietet evolutionären Vorteil

Beim Menschen dauert die Kindheit wesentlich länger als beispielsweise beim Schimpansen. Ein ähnliches Muster hat ein internationales Forscherteam jetzt auch beim Vergleich von Menschen- und Neandertaler-Kindern entdeckt: Moderne Menschen werden, indem sie ihren Reifeprozess ausdehnen, im Vergleich zu Schimpansen und Neandertalern als Letzte „flügge“. Dieses beschert ihnen jedoch einen einzigartigen evolutionären Vorteil, schreiben die Wissenschaftler in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS).

Mithilfe von Synchrotron-Strahlen, einem präzisen Röntgenverfahren,Oberkiefer eines Neandertalerkindes haben die Forscher in ihrer neuen Studie das Wachstum von zehn jungen Neandertaler- und Homo sapiens-Fossilien nachvollzogen und sichtbar gemacht. Abgesehen von einer Überlappung, die für nahe miteinander verwandte Arten typisch ist, entdeckten die Forscher auch die signifikanten Unterschiede in deren Entwicklung.

Trennung der Abstammungslinien vor sechs bis sieben Millionen Jahren

Zwischen nahe verwandten Arten, wie zum Beispiel Mensch und Schimpanse, existieren zahlreiche Unterschiede. Sie manifestierten sich, als sich die beiden Abstammungslinien vor sechs bis sieben Millionen Jahren trennten und beide Arten sich unabhängig voneinander weiter entwickelten. Forscher wissen jedoch sehr wenig darüber, welche Veränderungen zur Abspaltung der beiden Linien vom gemeinsamen Vorfahren führten, wie diese Veränderungen entstanden und wann sie auftraten. Frühe Menschen besaßen kurze Wachstumsperioden Ähnlich wie Schimpansen wiesen auch frühe Menschen – Australopithecinen und Vertreter der Gattung Homo – kurze Wachstumsperioden auf. Warum, wann und in welcher Gruppe früher Menschen die „modernen“ Voraussetzungen zu einer relativ langen Kindheit entstanden sind, ist ebenfalls noch nicht bekannt.

Eine der bisher nur wenig verstandenen Veränderungen ist unsere einzigartige Lebensgeschichte beziehungsweise die Art, in der wir unser Wachstum, unsere Entwicklung und Fortpflanzungsbemühungen zeitlich aufeinander abstimmen. Im Vergleich zum Menschen ist die Lebensgeschichte von Menschenaffen durch eine kürzere Schwangerschaftsdauer, schnellere Reiferaten nach der Geburt, ein jüngeres Alter bei der ersten Fortpflanzung, eine kürzere postreproduktive Periode und eine kürzere Gesamtlebensspanne gekennzeichnet.

Schimpansen bereits mit 13 geschlechtsreif

So erreichen Schimpansen einige Jahre früher als Menschen die Geschlechtstreife und bringen ihren ersten Nachwuchs im Alter von 13 Jahren zur Welt, Menschen sind durchschnittlich 19 Jahre alt – ermittelt an der weltweiten Bevölkerung. „Die langsame Entwicklung bei Kindern steht im direkten Zusammenhang mit dem Entstehen menschlicher, sozialer und kultureller Komplexität“, sagt Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-Institut (MPI) für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, der zusammen mit Kollegen der Harvard University und der European Synchrotron Radiation Facility (ESRF) in Grenoble für die neue Studie verantwortlich war. „Sie verschafft dem Gehirn eine längere Reifezeit und eine ausgedehnte Periode des Lernens.“ Gebiss des Neandertalerkindes

Zähne als Zeitspeicher

Man könnte annehmen, dass die dokumentierten fossilen Funde keine Lebensgeschichten preisgeben. Aber es hat sich herausgestellt, dass viele Variablen der Lebensgeschichte eines Individuums stark mit der Entwicklung der Zähne korrelieren. „Zähne sind beeindruckende Zeitspeicher, die jeden einzelnen Wachstumstag aufzeichnen und ähnlich wie die Jahresringe bei Bäumen den entsprechenden Fortschritt sichtbar machen. Noch beeindruckender ist es, dass unsere ersten Backenzähne eine winzige ‚Geburtsurkunde’ enthalten. Wenn Forscher diese Geburtslinie finden, können sie exakt berechnen, wie alt ein Kind zum Zeitpunkt seines Todes war“, erklärt Tanya Smith, die an der Harvard University und dem MPI in Leipzig forscht.

Supermikroskop im Einsatz

Mithilfe eines „Supermikroskops“ können die Forscher diese forensische Herangehensweise nun auch beim Blick in die Vergangenheit anwenden: Am ESRF, einer der größten Synchrotron-Anlagen der Welt, werden die dazu notwendigen extrem starken Röntgenstrahlen produziert. „An der ESRF können wir in unschätzbar wertvolle Fossilien hineinsehen, ohne sie zu beschädigen, indem wir die speziellen Eigenschaften energiereicher Synchrotron-Röntgenstrahlen nutzen“, sagt Paul Tafforeau: „Wir können Fossilien in verschieden großen Maßstäben und in drei Dimensionen untersuchen, von ihrer Gesamtform in 3D bis hin zu den mikroskopisch kleinen Tages-Wachstumslinien. Die ESRF ist zurzeit die einzige Einrichtung, wo diese Untersuchungen an fossilen Menschen möglich sind.“

Wuchsen Neandertaler anders?

Wissenschaftler waren sich jahrzehntelang uneins, ob Neandertaler anders wuchsen als moderne Menschen. Die neue Studie von Smith, Tafforeau und anderen Experten schließt nun einige der berühmtesten Neandertaler-Kinder mit ein, darunter auch das allererste Fossil der menschlichen Familie, das jemals gefunden wurde. Man nahm an, dass dieses Neandertalerkind aus Belgien, das im Winter 1829/30 entdeckt wurde, vier bis fünf Jahre alt war, als es starb. Mithilfe der Synchrotron-Röntgenstrahlen und modernster Computersoftware konnten die Forscher das tatsächliche Alter des Kindes zum Todeszeitpunkt jedoch auf drei Jahre datieren. Eine bedeutende Erkenntnis aus der aktuellen 5-Jahres-Studie ist den Wissenschaftlern zufolge, dass die Zähne bei Neandertalern wesentlich schneller wachsen als bei Vertretern unserer eigenen Art, einige der ältesten Gruppen moderner Menschen mit eingeschlossen, die Afrika vor 90.000 bis 100.000 Jahren verließen. Das Wachstumsmuster bei Neandertalern liegt zwischen frühen Vertretern unserer Gattung – zum Beispiel Homo erectus – und heute lebenden Menschen, so die Forscher.

Langsames Wachstum und lange Kindheit

Das für unsere Art so charakteristische langsame Wachstum und die lange Kindheit scheinen sich also erst kürzlich und ausschließlich in unserer eigenen Art durchgesetzt zu haben. Diese verlängerte Reifeperiode kann nach Angaben der Wissenschaftler zusätzliches Lernen erleichtern, eine komplexe Kognition fördern und verschaffte dem frühen Homo sapiens möglicherweise einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem Neandertaler.

Die neuen Studien gesellen sich zu der wachsenden Zahl an Beweisen, die besagen, dass es tatsächlich subtile Entwicklungsunterschiede zwischen uns und unserem Cousin, dem Neandertaler, gibt. In der Fachzeitschrift Current Biology berichteten Philipp Gunz und Kollegen des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie erst vor Kurzem, dass auch die Entwicklung des Gehirns bei Neandertalern anders verläuft als beim modernen Menschen.

Sequenzierung des Neandertalergenoms

Darüber hinaus hat die Sequenzierung des Neandertalergenoms durch Molekularbiologen um Svante Pääbo spannende genetische Hinweise gefunden, die auf Unterschiede bei der Entwicklung des Gehirns und des Skelettes bei Neandertalern im Vergleich zum modernen Menschen hindeuten. Diese neuen Methoden ermöglichen es den Forschern, die Ursprünge einer grundlegenden menschlichen Eigenschaft zu beleuchten: den kostspieligen aber vorteilhaften Übergang von der ursprünglichen Strategie „Lebe schnell und stirb jung“ zur fortgeschritteneren Strategie „Lebe langsam und werde alt“, die uns zu einer der erfolgreichsten Organismen auf diesem Planeten gemacht hat.

(MPG, 17.11.2010 – DLO)

Und aus dem Osten die Finsternis.

•November 17, 2010 • Kommentar verfassen

aus Neue Zürcher Zeitung, 17. 11. 2010

Kamen die ersten europäischen Bauern aus dem Nahen Osten?

Genetische Analyse von Skeletten spricht für einen Import der Landwirtschaft durch wandernde Bevölkerungsgruppen

Genanalysen von 7000 Jahre alten Skeletten aus Deutschland belegen Verbindungen zu heute lebenden Populationen im Nahen Osten. Das scheint für die Hypothese zu sprechen, dass die Landwirtschaft durch Einwanderung nach Europa kam.

Von Geneviève Lüscher

Der Streit ist alt und wird auch mit der neuen Studie einer Gruppe von Genetikern unter Wolfgang Haak von der Adelaide-Universität in Australien nicht beigelegt werden können. Es geht um einen der wichtigsten Schritte in der Menschheitsentwicklung, den Wechsel vom Wildbeutertum zu Ackerbau und Viehzucht, die sogenannte neolithische Revolution. Dieser Wandel vom nomadisierenden Jagen und Sammeln zur sesshaften bäuerlichen Lebensweise hat die Menschheit fundamental beeinflusst.

<spanAusgangspunkt der neolithischen Revolution ist unbestritten der Nahe Osten, wo sich vor etwa 11 000 Jahren erste Änderungen in der Lebensweise bemerkbar machten. Es stehen sich zwei Hypothesen gegenüber, wie sich dieser Wandel nach Europa ausgebreitet hat. Die eine geht von einer Akkulturation durch Ideentransfer aus, das heisst, die neuen Ideen wanderten, während die Menschen blieben, wo sie waren; die andere nimmt wandernde Bevölkerungsgruppen an, die sich mit den indigenen Wildbeutern Europas vermischten.

Wolfgang Haak und seine Kollegen haben nun Indizien für die zweite Hypothese gefunden.¹ In einer Studie präsentieren sie Genproben einer Bestattungsgemeinschaft aus Derenburg im Harz. Die frühneolithischen Bauern lebten vor rund 7000 Jahren und waren Vertreter der ältesten jungsteinzeitlichen Kultur, die in Europa von Ungarn bis nach Frankreich verbreitet war. Von den 43 Individuen in Derenburg konnten die Knochen von 22 für eine genetische Analyse verwendet werden. Weitere Neolithiker derselben Kultur aus ganz Europa wurden ebenfalls in die Studie einbezogen, was die Zahl der Individuen auf 42 erhöhte. In einem nächsten Schritt verglichen die Wissenschafter bestimmte mitochondriale Haplotypen dieser Population mit denen von 55 modernen Menschengruppen aus 36 Regionen Europas und Eurasiens.

Die Forscher konnten nachweisen, dass das genetische Profil der frühneolithischen Bauern aus Derenburg grosse Ähnlichkeit mit heute lebenden Populationen im Nahen Osten – in der heutigen Türkei, in Syrien und im Irak – aufweist. Das könne nur dahingehend interpretiert werden, dass zumindest in diesem Fall die prähistorischen Bauern nach Mitteleuropa eingewandert seien, schreiben die Forscher in ihrer Publikation. Die genetischen Signaturen lieferten auch Hinweise auf die Route der Einwanderung. Diese verlaufe über Anatolien, Südosteuropa und das Karpatenbecken nach Mitteleuropa.

Noch nicht von dieser Hypothese überzeugt sind Vertreter der Akkulturation. Für Werner E. Stöckli von der Universität Bern, Archäologe und Spezialist für das Neolithikum, sind die Daten von 42 Individuen eine schmale Basis für derart weitreichende Interpretationen. Das grösste Problem sieht er aber in der Tatsache, dass es «die» Neolithisierung archäologisch nicht gibt. Der Wechsel zur Landwirtschaft sei gemäss Bodenfunden weder im Nahen Osten noch in Europa in einem Schub erfolgt, sondern gestaltete sich als mehrtausendjähriger Prozess. Die Neuerungen aus dem Nahen Osten erreichten Europa in Wellen: zuerst das Getreide, später die ersten Haustiere, dann die Keramik. Dieses Nacheinander spricht seiner Meinung nach eher für eine ständige Akkulturation. Zudem dürfe nicht vergessen werden, dass bereits vor dem Neolithikum bestimmte Formen von Steingeräten durch Ideentransfer nach Europa gelangt waren und dass auch die bahnbrechenden nachneolithischen Neuerungen wie die Verarbeitung von Kupfer, Bronze und Eisen den gleichen Ursprung hatten. Jedes Mal eine Völkerwanderung zu postulieren, sei für ihn kaum vorstellbar.

Die Forscher um Haak sind sich der Vorläufigkeit ihrer Analysen bewusst. Die Auswanderungshypothese müsse durch weitere genetische Untersuchungen frühneolithischer Populationen im Nahen Osten und in Anatolien untermauert werden, schreiben sie.

¹ PLoS Biology, Online-Publikation vom 9. November 2010.

Hatte Australopithecus doch keine Werkzeuge?

•November 16, 2010 • Kommentar verfassen

aus scinexx

Streit um mögliche Werkzeugspuren

an 3,4 Millionen Jahre alten Knochen

Die im August entdeckten Kerben an 3,4 Millionen Jahre alten Tierknochen sind vielleicht doch keine Werkzeugspuren unseres Vorfahren Australopithecus afarensis: Stattdessen entstanden sie möglicherweise erst nach Verwesung der Tiere durch Erosion im grobkörnigen Sediment. Das jedenfalls belegen jetzt Forscher in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS).

Im August 2010 sorgten Wissenschaftler des Dikika Research Projects (DRP) für eine Sensation, als sie in Nature 3,4 Millionen Jahre alte Knochenfunde mit verräterischen Kratzspuren präsentierten. Nach Ansicht der Forscher um Shannon McPherron vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie handelte es sich dabei um Spuren von Werkzeuggebrauch und damit um einen Beleg, dass auch der Vormensch Australopithecus afarensis schon Tiere erlegte und Fleisch aß. Bisher galten Werkzeugfunde aus dem äthiopischen Gona und Bouri als älteste Belege für Werkzeugnutzung, sie stammen jedoch nicht von den Artgenossen der berühmten „Lucy“, sondern von einer nachfolgenden Vormenschenart.

Schlussfolgerung falsch?

Doch jetzt wird Widerspruch gegen diese Interpretation der Kratzspuren laut.Kerbe an 3,4 Millionen Jahre alten Tierknochen Ein internationales Forscherteam unter Leitung von Manuel Domínguez-Rodrigo von der Universität Madrid hat die Kratzer erneut untersucht und kommt zu einem völlig anderen Schluss: Die Kratzer in den beiden in Dikika gefundenen Knochen wurden ihrer Ansicht nach weit nach dem Tod der Tiere durch Steinchen im Sediment verursacht. Diese erzeugten die Kratzer, als Tiere über die nur flach im grobkörnigen Boden begrabenen Knochen hinwegliefen.

Vergleichs-Experimente mit modernen Knochen

Um nachvollziehen zu können, welche Spuren Werkzeuge oder aber Trampelspuren hinterlassen, stellten die Wissenschaftler sowohl das Trampeln von Tieren auf leicht begrabenen Knochen als auch das Ritzen mit einfachen Steinen im Experiment nach. Neben den von den Wissenschaftlern des Dikika-Projekts ausdrücklich als Werkzeugspuren bewerteten Kratzern entdeckten und analysierten Domínguez-Rodrigo und seine Kollegen auch zahlreiche weitere Kratzspuren auf den Knochen. Sie wurden in der Ursprungsveröffentlichung nicht erwähnt, gleichen aber den Reibungsspuren, die entstehen, wenn Knochen ohne Fleischumhüllung im Sediment lagern.

„Trampel-Relikte“Querschnitt und Form spricht für „Trampel-Relikte“

Ein erstes Indiz gegen Werkzeugspuren sehen die Forscher in der Form der Kratzer: So hinterlassen Schrammen von Steinwerkzeugen typischerweise ein Kerbe mit einem V-förmigen Querschnitt. Die nähere Analyse der Dikika-Knochen zeigte jedoch vorwiegend eine andere Kerbenform: „Die meisten der Dikika-Markierungen erscheinen im Querschnitt mit einer Basis, die deutlich breiter ist als die Höhe der Seitenwände“, so Domínguez-Rodrigo und Co. Diese Verteilung passt eher zu einer Entstehung durch Erosion, weniger zu einer gezielten Bearbeitung mit Werkzeugen. Im Experiment ergaben 96 Prozent der Trampeltests eine breite Form, bei den Werkzeugtests dagegen nur vier Prozent. Der Rest waren klassische V-förmige Kerben.

Und noch eine Eigenschaft machte die Forscher stutzig: „Darüberhinaus verlaufen die meisten Kerben gekrümmt oder sinusförmig“, so berichten sie in ihrem Artikel. Auch dies könnte eher auf einen Ursprung durch Erosion im Sediment hindeuten. Im Experiment hinterließ das Trampeln Trampeln in mehr als 70 Prozent der Fälle genau diese gekrümmten Kerben, das Bearbeiten mit Steinwerkzeugen dagegen nur in rund zehn Prozent der Fälle.

Kontext wirft auch Zweifel auf vermeintlich eindeutigere Kerben

„Zusammen liefern diese experimentellen Ergebnisse einen robusten Kontext um die Markierungen auf dem Knochen DK55-3 mit hoher Wahrscheinlichkeit als Trampelschaden und nicht als Steinwerkzeugkerben oder Hammerspuren zu bewerten, wie durch das DRP erfolgt“, erklären die Forscher. Ihrer Ansicht nach ändert auch die große Ähnlichkeit von zwei der Kratzern mit Werkzeugspuren nichts an diesem Fazit: „Die Markierungen A1 und A2 auf DIK55-2 sind morphologisch bezwingend in ihrer Ähnlichkeit mit verifizierten Schnittkerben durch Steinwerkzeuge im Experiment: Die Kerben zeigen tiefe, V-förmige Querschnitte und Mikrostrukturen. In einem weniger umstrittenen Kontext würden sie vermutlich als echte Schnittkerben akzeptiert werden können“, so Domínguez-Rodrigo und seine Kollegen.

Skepsis bleibt, weitere Beweise dringend nötig

Doch angesichts der Tatsache, dass ein kompletter Wandel unserer Vorstellungen über die Australopithecinen nur an diesen Kerben hängt, sehen die Forscher Grund für eine extrem genaue Überprüfung – und für Skepsis. Das Vorkommen so vieler eindeutig auf nachträgliche Erosion zurückzuführender Kerben auf den gleichen Knochen deutet ihrer Ansicht nach auch bei den scheinbar eindeutigen Kratzern auf eine zufällige Entstehung hin.

„Skeptizismus sollte das Leitprinzip in einem solchen Kontext sein und wir sind in der Tat skeptisch gegenüber dem behaupteten Schlachtungsursprung der Kerben“, so das Fazit der Wissenschaftler in ihrem Artikel. „Solange bis stärkere kausale Verbindungen zwischen den DK55 Knochenspuren und homininen Einwirkungen demonstriert werden, bleibt der früheste, verlässlichste Beweis für ein werkzeugunterstütztes Schlachten durch Homininen die aus den äthiopischen Fundstellen in Gona und Bouri von vor 2,6 bis 2,5 Millionen Jahren.“